Letzthin war ich mit unserem Sohn, der gerade mit Prüfungsstress kämpfte im ÖV unterwegs. Und an eben diesem Morgen, wo ein junger Mann mit starken Gefühlen neben mir sitzt, fallen mir auf dem Weg nach Basel gerade zwei Werbeplakate auf:
- Ein Plakat mit der Frage «Wie geht’s dir» eine Kampagne von Gesundheitsförderung Schweiz, wo es darum geht über Emotionen zu sprechen zur Förderung der psychischen Gesundheit.
- Und die Kampagne «Wie fühlst du dich» von Helvetia.
Ist es dir auch schon aufgefallen, dass vermehrt von Gefühlen geschrieben oder gesprochen wird? Nicht nur in der Werbung fällt mir das immer mal wieder auf, sondern auch in Weiterbildungen, auch im Business-Kontext. Es wird mehr und mehr über das Thema Gefühle und damit auch über Verletzlichkeit gesprochen.
Menschen treten auf der Bühne auf und erzählen von ihren «dunklen» Zeiten um anderen, die gerade mittendrin stecken, Mut zu machen und ja, um der Gesellschaft und jedem Einzelnen davon zu zeigen, dass das Leben nicht immer nur Honigkuchen und Zuckerschlecken ist.
Irgendwie erstaunlich, waren doch die letzten Jahrzehnte geprägt davon, dass es cool ist keine Gefühle, keine Regungen zu zeigen. «Indiander kennen keine Schmerzen» wurde gerade den Jungs immer und immer wieder vor Augen geführt. Auch uns Mädchen hat das beeindruckt, fanden wir doch «Winnetou» auch recht cool. Schon als kleines Kind, wenn sie umgefallen sind und sich weh getan haben, kam dieser Spruch. Ich habe ihn öfters gehört, gerade von Vätern, die auch mit diesem Spruch aufgewachsen sind. Leider hat sich das tief eingeprägt: «Bewahre bitte die Kontrolle, wenn dich etwas schmerzt, was auch immer es ist… unabhängig davon ob es sich um körperliche oder seelische Schmerzen handelt».
Aber ist es wirklich so, dass Indianer keine Schmerzen kennen? Ist es cool, keine (seelischen) Schmerzen zu kennen?
Das, was mir im Moment überall begegnet, zeigt definitiv ein anderes Bild.
Je länger je mehr Menschen fallen in eine Depression, erleiden ein Burnout, werden körperlich krank. Und gerade bei psychischen Problemen wissen oft nicht mal die besten Kolleg:innen etwas davon. Bis zum «bitteren» Ende wird durchgehalten, und man lässt sich nichts anmerken, dass im Leben gerade einiges nicht stimmt und in die falsche Richtung läuft. Da gibt’s so viele Menschen mit Panikattacken, und weil sie sich nicht getrauen, sich ihrem Umfeld anzuvertrauen, kämpfen sie noch mit der allseits bekannten «Angst vor der Angst». Einfach nur traurig…
Immer wieder frage ich mich, was die Gründe sein könnten, dass sich viele einfach verschliessen und «negative» Gefühle lieber verstecken und für sich behalten:
- Vielleicht, weil Schmerzen tatsächlich verdammt schmerzen und es einfacher ist sich abzulenken und den Schmerz zu ignorieren?
- Vielleicht, weil wir denken, dass das Umfeld nicht damit umgehen kann, wenn es uns mal nicht so gut geht?
- Vielleicht ist es auch tatsächlich so, dass einige überfordert sind zu hören, dass es dir gerade nicht so gut geht?
- Vielleicht, weil früher Emotionen viel weniger Platz hatten im Leben und wir das noch tief in uns verankert haben?
- Vielleicht weil wir befürchten, dass das negativ ausgelegt werden könnte. Dass wir als «Schwächling» abgestempelt werden?
- Und vielleicht sind es auch ganz andere Gründe. Hast du noch eine Erklärung dafür, lass es mich gerne wissen. (schick mir gerne eine Mail dazu)
Ganz offensichtlich scheint es für Betroffene einfacher zu sein, zu schweigen und einfach so zu tun, als ob nichts wäre als hätten sie alles im Griff, anstatt mit anderen darüber zu reden. Sie fühlen sich als Schwächling, wollen andere nicht belasten und sind oft auch selber überfordert, gerade auch weil es in unserer Gesellschaft oft (noch) keinen Platz hat. Schliesselich wollen wir nicht «jammern» und sowieso so schlimm ist es gar nicht, anderen gehts ja schlecht und «Indianer kennen keine Schmerzen», erinnerst du dich?
ABER:
Sind nicht diejenigen die wahren Helden, die zu sich stehen, ihre Gefühle und ihre Grenzen offen zeigen und innerhalb derer ihr Mögliches tut? Und da meine ich jetzt nicht «dauerjammern» ;-).
Ist nicht der Indianer der Held, der sich und die Lage einschätzen kann und ja im worst case auch kapituliert, weil er merkt, dass es so nicht weitergeht.
Hand aufs Herz:
Braucht es nicht viel mehr Mut, sich und dem Umfeld zu zeigen, dass das was eigentlich von mir erwartet wird, so gerade nicht (mehr) funktionier, weil es mir einfach grad nicht gut geht, weil die Energie fehlt oder weil anderes mich gerade zu stark einnimmt. Anstatt bis zum bitteren Ende durchzuhalten und dann irgendwann kapitulieren zu müssen?
Meine Erfahrung ist,…
dass Offenheit immer mit Vertrauen belohnt wird. Bei mir und in meinem näheren Umfeld gab es in den letzten Jahren immer mal wieder «Schattenseiten». Und egal ob es um psychische oder physische Herausforderungen ging, ich bin mit meiner Offenheit immer auf viel Unterstützung gestossen. Nicht nur, dass ich dank der Offenheit spannende Möglichkeiten kennen gelernt habe, weil sich das Gegenüber dann in der Regel auch öffnet. Offenheit wird vom Gegenüber oft auch als grossen Vertrauensbeweis empfunden. Und genau daraus ergeben sich die wirklich tiefen und wertvollen Beziehungen. Und die möchte ich definitiv nicht missen.
In dem Sinne wünsche ich mir von Herzen, dass du den Glaubenssatz «Indianer kennen keine Schmerzen» auf die Seite legen kannst und zum Beispiel durch «Geteilte Schmerzen sind halbe Schmerzen» austauschst. Es lohnt sich.
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